Dieser Text erschien zuerst am 1. Oktober 2008
Noch nicht einmal 20 Jahre konnte der Privatkapitalismus – so beschönigend, und in Westeuropa bis 1990 gerne mit dem Feigenblatt „sozial“ geschmückt, Marktwirtschaft genannt – sein oberflächlich durch die Brille der Staatssozialisten und ihrer westlichen Anhänger als Sozialismus betrachtetes historisches Gegenstück überleben. Einen Sozialismus, der spätestens mit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im Jahre 1968 für jeden kritisch denkenden Linken deutlich als totalitärer Staatskapitalismus erkennbar war und schon lange Zeit vorher jegliche emanzipatorischen Aspekte und Ansätze des Kommunismus negierte. So ähnlich, wie sich diese beiden (hoffentlich) kurzfristigen historischen Episoden der gesellschaftlichen Entwicklungslinien der Menschheit in ihrer Orientierung auf die Waren- und Wertproduktion durch Vernutzung menschlicher Arbeitskraft und der Aneignung des erzeugten Mehrwerts sind. Wobei es hierbei letztlich unerheblich ist, ob diese Aneignung durch den Individualkapitalisten oder den Staatskapitalisten in der Form der .sozialistischen Gemeinschaft. geschieht. So ähnlich sind sie sich in den Gründen und möglicherweise – was sich in nächster Zeit noch zeigen wird – auch in der Form ihrer Selbstauflösung.
Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts ist auf gesellschaftlicher Ebene an seinen inneren Widersprüchen zwischen theoretischem Anspruch und gelebter Realität zerbrochen. Widersprüchen, die sich zum Ende hin, auch für den wohlwollendsten linken Betrachter, durch nicht mehr übersehbare Defizite im Bezug auf die individuellen unveräußerlichen Freiheitsrechte Einzelner und die demokratische Partizipation der Bürger im ganzen manifestierten. Diese Widersprüche entluden sich quasi gleichzeitig in mehr oder weniger friedlichen Revolutionen einer teilweise seit Generationen bevormundeten und durch eine von der herrschenden (Funktionärs-)Elite – die sich selbst so unpassend wie anmaßend als sozialistisch bzw kommunistisch bezeichnete – fremdbestimmte Bevölkerung. Eine solche Entfremdung zwischen dem Anspruch im Handeln und Denken der herrschenden Elite und der Machtlosigkeit im Leben der durch sie beherrschten Menschen, ist eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen beiden wertfixierten und somit im Grunde kapitalistisch zu nennenden Gesellschaftsformen. Die staatskapitalistische Elite beanspruchte über den selbsterklärten Begriff der Führung einer sozialistischen und einheitlichen Arbeiterklasse den Alleinvertretungsanspruch in Theorie und Praxis des gesamten Lebens ihrer Bürger. Obwohl sie lediglich – wie ihr in den letzten Atemzügen liegendes .freiheitlich-westliches. Gegenstück – die Machtinteressen der herrschenden Klasse als willfähriges Instrument auch und gerade gegen die Interessen eines Großteils der Menschen durchgesetzt hat.
Endgültiger Auslöser des Umbruchs von Unten in den Ländern des „Sozialismus“ und daraus folgend ihres Zusammenbruchs war die schon länger katastrophale wirtschaftliche Situation eines Gesellschaftsmodells, das – genau wie sein westliches Pendant – in einer Arbeits- und Wertfixierung gefangen war, die ständig und unabänderlich Wachstum generieren musste und nur durch dieses stetige Wachstum am Leben zu erhalten war. Ein Wachstum, welches keiner der sozialistischen Staaten auf Dauer in Konkurrenz zum .freien Westen. durchhalten konnte. Jedenfalls nicht ohne im Bezug auf die dafür notwendigen finanziellen, materiellen und ökologischen Ressourcen dauerhaft und gerade im ökologischen Bereich teilweise unumkehrbar auf Kosten späterer Generation wirtschaften – sprich Wachstum erzeugen – zu müssen. Ein Ausbruch aus diesem zwangsläufig in einen Zusammenbruch mündenden Wert- und Wachstumsfetischismus war um den Preis des Machtverlustes der herrschenden Eliten nicht möglich. Der Zusammenbruch des Sozialismus als Gesellschaftsmodell und das Ende der „sozialistischen“ Staaten war somit kein Zufall oder das Spiel dunkler Mächte der Reaktion und Konterrevolution. Er war einzig und allein die unausweichliche Folge eines schon in den Fundamenten zum Scheitern verurteilten, weil auf unendliches Wachstum und Beherrschung der Massen durch eine sie ausbeutende Klasse bauenden, Systems.
Die derzeitige „Finanzkrise“ der westlichen Welt – die sich in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts durch ihre Systempresse schon begeistert als „Sieger des kalten Krieges“ feiern ließ und gleich darauf sogar das „Ende der Geschichte“ verkünden wollte – ist nicht nur eine Krise eines kleinen aber einflussreichen Sektors des Kapitalismus, sondern Ausdruck des Erreichens der unverrückbaren Grenzen eines für unbegrenzt erklärten Wachstums- und Wertschöpfungswahns. Genau wie die staatskapitalistisch verfassten Systeme und ihre Führungseliten des „sozialistischen“ Ostblocks aufgrund ihrer gewollten Betriebsblindheit diese Grenzen – die aufgrund ihrer beschränkten materiellen Möglichkeiten und der ständigen Konkurrenzsituation mit dem individualkapitalistischen Teils der Welt deutlich enger gefasst waren und somit schon früher zum Zusammenbruch führten – nicht erkennen konnten und dies oftmals auch bewusst nicht wollten, ist es auch der herrschenden Klasse der privatkapitalistischen Welt nicht möglich außerhalb der Kategorien von Arbeit und Wert und deren stetem Wachstum als Quell des eigenen und des gesellschaftlichen .Wohlstands. zu denken. Nachdem durch Automatisierung und damit verbundenen, im Vergleich zu früheren Perioden der Menschheitsgeschichte wahnwitzigen, Produktivitätssteigerungen die Wertschöpfung maximiert und die Vernutzung der menschlichen Arbeitskraft optimiert worden sind, erscheint ein weiteres Wachstum nur noch in Bereichen möglich, die nicht mehr direkt der Produktion von Gütern und somit im kapitalistischen (Un-)Verständnis der Realwirtschaft zuzuordnen sind. Das seit Ende der letzten Systemkrise – also mit dem Ende des 2. Weltkriegs – und vor allem auch seit dem Zusammenbruch des „Sozialismus“ angesammelte Kapital fand und findet nie wieder in der Sphäre der Warenproduktion und der Bedarfsdeckung menschlicher Reproduktionsbedürfnisse die Möglichkeiten zum systemisch unabdingbaren und notwendigen Wachstum. Einem Wachstum, das es braucht, um durch stete Vermehrung seiner selbst die Maschine des Kapitalismus am Laufen zu halten. Das derzeit zu beobachtende Platzen einer Spekulationsblase ist allerdings aus genau diesem Grund noch keine neue Erscheinung in diesem unaufhaltsamen Prozess der Kapitalvermehrung. Neu und einmalig ist hingegen, dass genau diese geplatzte Blase an genau dieser für den Fortbestand des Kapitalismus zwingend notwendigen zentralen Schaltstelle – nämlich seinem für die weitere Akkumulation von Kapital und Werten einzigem noch vorhandenem Instrument – dem Finanzsektor, eine nicht mehr mit den üblichen Mitteln des kapitalistischen Krisenmanagements beherrschbare Situation mit massiven Auswirkungen auf alle Bereiche der kapitalistischen Volkswirtschaft heraufbeschwört. Und gleichzeitig in schonungsloser Klarheit, so man denn sehenden Auges ist oder sein will, die unverrückbaren Grenzen dieses Systems aufzeigt. Grenzen, die es per Definition und zum Fortbestand dieses Systems nicht geben darf, so es denn seine Legitimation als einzig mögliches Gesellschaftssystem nicht selbst negieren möchte.
In ihren derzeitigen Reaktionen wirken die herrschenden Eliten aus genau diesem Grunde erbärmlich ahnungs- und planlos. Mit dem als kapitalistischen Allheilmittel immer brauchbaren „There is no Alternative“ wird eine immer höhere Dosis in der Vergangenheit wirksamer Medizin verabreicht. Ohne zu bemerken, dass der Patient Kapitalismus nicht etwa krank und somit heilbar ist, sondern schlicht und einfach das Ende seiner Lebenszeit erreicht hat. Es ist eben gerade nicht ein weiterer Schub Kapital nötig, um den Finanzsektor wieder in Schwung zu bringen. Gerade ein zuviel an Akkumulationsmöglichkeiten suchenden Kapitals hat diesen Zustand erst erzeugt. In der – in den Begrifflichkeiten der herrschenden Elite als getrennt vom Finanzsektor zu betrachtenden – Welt der Produktion von Gütern und Dienstleistungen findet dieses Kapital keine Möglichkeit der Vermehrung mehr. Der Prozess der Optimierung der menschlichen Arbeitskraft und der Automation ist in weiten Bereichen abgeschlossen. Das dadurch überflüssige Menschenmaterial wird auf minimalsten Niveau gerade noch als Konsument und zur Verrichtung aus kapitalistischer Sicht nutzloser, weil keinen messbaren und abzuschöpfenden Mehrwert erzeugenden, Tätigkeiten mit geringsten Mitteln der Gemeinschaft – nicht des Kapitals ! – durch Hartz IV in der BRD und entsprechende Verelendungsgesetze in anderen Ländern am Leben gehalten. Einen Zweck im Sinne kapitalistischer Verwertungslogik können die Massen der so von jeglicher gesellschaftlicher Teilhabe abgeschnittenen Menschen nicht mehr erfüllen. Sie taugen allenfalls noch als Drohpotential zum letzten Auspressen der verbleibenden noch arbeitenden Reste der Bevölkerung. Oder sie fristen ihr Dasein als sich selbst referenzierendes und durch den Blick (und den damit erzeugten Hass) auf seinesgleichen abgelenktes Publikum und Darsteller zugleich in den Shows und Berichten der gleichgeschalteten Systemmedien. Noch funktioniert diese Kombination aus Zuckerbrot, Peitsche und Valium glücklicherweise im Sinne der herrschenden Klasse und ein Sturm auf die Banken und die schon lange im Grunde wertlosen Spareinlagen konnte bislang verhindert werden.
Die Führungseliten des Kapitalismus haben sich somit noch eine vermutlich recht kurze Galgenfrist erkauft. Mit den täglich wiederholten leeren Floskeln über die Sicherheit der Einlagen, die Schnürung weiterer milliardenschwerer „Rettungspakete“, die Senkung dieses oder jenes Zinses, die Verstaatlichung der einen oder anderen Bank und dem überlauten Ruf nach Vertrauen in das System, erinnern die kapitalistischen Eliten an die gestammelten Versuche der greisen von der Realität schon längst überrollten Führungsriege des Ostblocks das sozialistische Paradies zu erklären, obwohl vor ihnen aufgebrachte Menschenmassen nach Freiheit, Demokratie und Wohlstand riefen. Zwischen „Ich garantiere alle Spareinlagen“ einer Frau Merkel und dem hilflosen „Ich liebe doch alle Menschen“ eines Genossen Mielke besteht höchstens noch ein hauchfeiner kaum erkennbarer Unterschied. Der tiefere Sinn ist gleich: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das privatkapitalistische System wird als ebenso naturgegeben erklärt, wie es das bis 1990 bestehende staatskapitalistische System des Sozialismus war. An den Grundfesten beider Seiten der einen Medaille wird erst gar nicht ernsthaft gerüttelt. Der Fetisch Arbeit und der daraus abgeleitete Wertbegriff sind sakrosankt und für den Fortbestand der darauf aufgebauten Gesellschaftsordnung unabdingbar und unabänderlich notwendig. Auch zum Preis der Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung und der damit einhergehenden Beschneidung ihrer demokratischen Beteiligungsrechte. Selbst die kurze imperiale Periode der kapitalistischen Führungsmacht unter Beteiligung ihrer auf vielen Ebenen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zu einer Schicksalsgemeinschaft verwobenen Satelliten mit einem unbegrenzten „Krieg gegen den Terror“ – der in Wirklichkeit wie das kapitalistische System weder unbegrenzt sein kann und der in Wirklichkeit ein schlichter imperialer Eroberungs- und Ressourcensicherungsakt ist – vermag es nicht, die erreichte Grenze des unbegrenzten Wachstumstraumes und des damit verbundenen unbegrenzten Reichtums der Elite dauerhaft und erfolgreich in der Zeit nach hinten zu schieben. Im Gegenteil hat gerade diese durchaus aus der kapitalistischen Logik erklärbare Reaktion das Erreichen dieser Grenze sogar beschleunigt. Der Traum einer immerwährenden kapitalistischen Gesellschaft, die bis in alle Ewigkeit Werte anhäuft ist somit auch deutlich als das was er ist zu erkennen: Als Traum oder Alptraum. Je nach der Stellung, die man in dieser Gesellschaft einzunehmen verdammt ist.
Gerade in diesen Zeiten ist es notwendig eine linke Politik zu entwickeln, die eben gerade nicht versucht mit schon in der Vergangenheit untauglichen Rezepten des staatskapitalistisch verfassten Sozialismus das Blatt wieder zu wenden oder als zusätzlicher Arzt am Krankenbett des Kapitalismus nur andere und im Zweifelsfall höhere Dosen der unwirksamen Medizin zu fordern. Schon zu Gründung der LINKEN als „neuem“ politischen Akteur in der BRD im Mai 2006 war genau diese krisenhafte Entwicklung absehbar. Und es hätte durchaus noch die Zeit, der Rahmen und eventuell sogar noch die intellektuelle Möglichkeit bestanden, eine Utopie über den wertbasierten Bezugsrahmen des Kapitalismus und des abgewirtschafteten Staatssozialismus hinaus zu formulieren. Wer sich allerdings die in diesen Jahren real gelebte Politik der so freudig von einem Grossteil der linken Intelligenz beklatschten „Neuen Linken“ anschaut, entdeckt lediglich eine auf dem Niveau der Sozialdemokratie der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verharrende bürgerliche Partei, deren einziger Zweck darin besteht, das in der entrechteten Bevölkerung vorhandene Protestpotential systemkonform zu kanalisieren und daraus für ihre eigenen Funktionäre und Eliten eine Teilhabe am absterbenden kapitalistischen System abzuleiten. Ernsthafte und angesichts der derzeitigen krisenhaften Entwicklung dringend notwendige Lösungen oder wenigstens die Diskussion der Möglichkeit von Lösungen sind mit einer solchen, schon nach so kurzer Zeit nur noch als Teil des Systems wahrnehmbaren, Linken nicht mehr möglich. Das brave Einbringen von Gesetzesinitiativen – sei es zur Regulierung der Finanzmärkte, der Einführung von Spekulationssteuern oder sogar der Re-Verstaatlichung der öffentlichen Daseinsvorsorge – sind zwar im Bezugsrahmen des kapitalistischen Systems durchaus bemerkenswert, befähigen aber nicht für den Blick über die deutlich sichtbare Grenze des Systems hinaus. Die sich vermutlich noch verstärkende Krisenhaftigkeit des Systems wird gerade eine Linke, als immer noch größtenteils anerkannte Plattform für tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen, in Zukunft noch weitaus mehr fordern. Man denke hier nur an die durch Insolvenzen von Finanzdienstleistern in den USA nicht mehr mögliche Weiterfinanzierung der in der Vergangenheit in der BRD so beliebten Cross-Border-Leasing Verträge, bei denen öffentliche kommunale Werte in zweistelliger Milliardenhöhe zum Schein verkauft und wieder zurückgemietet worden sind. Welche Folgen die derzeitige Krise auf die kommunalen Haushalte haben wird, ist selbst von Experten hier nicht absehbar. Die Anwendung schon in der Vergangenheit unter den obigen Annahmen zu Recht gescheiterter sozialdemokratischer und sozialistischer Lösungsansätze wird diesen historischen Anforderungen nie und nimmer gerecht. Wenn die Linke diese Rolle nicht auszufüllen vermag, werden andere gesellschaftliche Kräfte diesen Platz einnehmen. Diese werden auch keine nachhaltige Lösung formulieren können, sie werden sie auch nicht formulieren wollen, aber das zweite Ende des Kapitalismus könnte damit ein langes, langsames Ende mit noch nicht absehbarem Schrecken werden.
Hannover im Oktober 2008