Die Linke zwischen Realität und Klassenkampf

Dieser Text erschien zuerst am 6. Juli 2010
Vor den weitestgehend friedlichen Revolutionen der Jahre 1989/90 in den realsozialistischen Staaten war für die meisten linksorientierten Aktivisten des Westens und für einen Grossteil der einheitsparteiorganisierten Funktionäre, Kader und Mitläufer des Ostens die Welt noch klar, einfach und nachvollziehbar in Gut und Böse einteilbar. Auf der einen Seite des Eisernen Vorhangs die als Volksrepubliken oder Volksdemokratien betitelten Frontstaaten, die auf der Grundlage des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus und der Diktatur des Proletariats, eine Art Himmel der unterdrückten Werktätigen schon im Diesseits erreicht hatten. Auf der anderen Seite finstere, kapitalistische Unterdrückungsregime, die auf ihrem Weg zum Imperialismus und Faschismus über Leichenberge der Völker gehen oder gegangen sind. Ein Grau, oder jeden anderen auch bunten Zwischenton der menschlichen Gesellschaftsentwicklung, konnte und durfte es nicht geben. Allerhöchstens wurde dem Kapitalismus zugestanden, dass er sich hinter einer für jeden Linken natürlich sofort durchschaubaren Maske von sozialer Marktwirtschaft und (Schein-)Demokratie gut zu verbergen wusste und so dem ungeschulten Subjekt der Befreiung durch Sozialismus (der oftmals beschworenen Arbeiterklasse) vorzugaukeln vermochte, dass er nicht so finster und grausam war. Völlig geschichtsvergessen halluzinierte man in westlichen Wärmestuben des Klassenkampfes davon, dass der Zeitpunkt des Umsturzes, der Tag der Erhebung der Massen, unmittelbar bevorsteht. Spätestens seit den Studentenprotesten in 1968 vermochte fast jeder linke Klassenkämpfer und vermeintliche Stadtguerilla eine vorrevolutionäre Situation in jeden noch so kleinen Protest innerhalb des kapitalistischen Systems hineinzudeuten.

Unbeachtet blieb dabei die Tatsache, dass diese Proteste vorrangig an Entwicklungen und Prozessen des kapitalistischen Systems entsprangen und letztlich (egal was gedeutelt wurde) der Weiterentwicklung und Demokratisierung des Systems dienten; Analog zu den im Osten gewaltsam unterdrückten Protesten des Prager Frühlings. Die Zeit war reif nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und einer über 20 Jahre währenden Entwicklung in West und Ost eine Reform der beiden Systeme durchzuführen. Nicht um sie zu überwinden, sondern um sie den Lebensrealitäten der Nachkriegsgeneration anzupassen. Im Westen ist dies gelungen, der Kapitalismus war in der Lage den Protest und die berechtigten Forderungen in den demokratischen Prozess einfliessen zu lassen, in reales politisches Handeln umzusetzen und die Träger des Protestes als Teil der demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft einzubinden. Hin bis zu einem Kanzler Schröder und seinem Aussenminister Fischer, die beide aus diesem Protest kommend höchste Machtpositionen des bürgerlichen Staates einnehmen konnten. Das Ergebnis ihrer Politik bietet natürlich reichlich Stoff zu kontroverser Debatte und hat letztlich zur Etablierung der LINKEN als gesamtdeutsche linke Partei geführt. Der Reformansatz des Prager Frühlings hingegen wurde wie bekannt unter den Panzerketten der sozialistischen Bruderländer zermalmt. Dies führte alle Versuche des Sozialismus in Europa zu einem mehr oder weniger bitteren Ende, diskreditierte den Sozialismus als Gesellschaftsmodell gerade für die aufgeklärten Schichten des Westens und beschleunigte den Prozess gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Sklerose an derem Ende die Umbrüche 1989/90 lagen.

Bezeichnend ist, dass 20 Jahre nach diesen historischen Entwicklungen und dem Sieg des Freiheitswillen der Menschen und der demokratischen Zivilgesellschaft über Bevormundung und Gängelung – vorgeblich durchgeführt in ihrem Namen durch eine selbsternannte Vorhut der Arbeiterklasse und ausgeführt mittels Überwachung, Einsperren, Beschneidung von elementarsten Menschenrechten – gerade wieder oder immer noch die Systemfrage und der Weg des politischen Handelns die Diskussionen innerhalb der deutschen Linken beherrscht. Abseits der für den Lauf der Welt unerheblichen linken Splittergruppen wie der MLPD und der DKP (obwohl bei dieser auch momentan über den zukünftigen Kurs gerungen wird), wird gerade in der Partei DIE LINKE diese Debatte heftig und wortreich geführt. Verständlich, da sie doch – nach der Agendapolitik der rot-grünen Schröder-Regierung und der Fortführung dieser Politik unter der grossen Koalition – das zentrale Sammelbecken linken, sozialistischen Gedankengutes und der daraus abgeleiteten Politik in der BRD ist.

Angekommen in der Parteienlandschaft mit ihren demokratischen Spielregeln, Parlamenten aller Ebenen und Entscheidungsprozessen schlagen immer noch zwei Herzen in ihrer Brust und vor allem versuchen zwei Hirnhälften wechselseitig den Kurs zu bestimmen bzw die Herrschaft über den gesamten Parteikörper zu erringen. Unter diesen Vorzeichen werden sorgfältigst zwischen den innerparteilichen Interessengruppen austarierte Vorstandstableaus auf Bundesebene durchgewunken, Parteiprogramme entworfen, die um ja eine Mehrheit zu finden voller Beliebigkeiten sind und nie konkret werden können, mögliche Koalitionen platzen an dem Bezug auf die DDR, weil gerade in den westlichen Teilen der Partei nicht eingesehen werden kann, dass nicht das SED-Regime und seine vermeintlichen Wohltaten unser positives Erbe dieser 40 Jahre darstellt, sondern der Umbruch und Neustart seit 1989, an dem viele Menschen der LINKEN bzw PDS aktiv und im Guten für die Bevölkerung mitgearbeitet haben. Diese Aufzählung lässt sich noch schier endlos fortsetzen und bricht sich herunter bis auf die kommunale Ebene, auf der sich heftigste Richtungsstreitereien an banalen Fragen des täglichen Politikgeschäftes entzünden. Debatten, die manchmal aufschlussreich und entwickelnd sind, oftmals aber das eigentlich notwendige Handeln im Hier und Jetzt negativ überlagern oder sogar gänzlich unmöglich machen. Weil vor lauter Begeisterung für das eigene Argumentieren und das verbale Niederringen des innerparteilichen „Klassenfeindes“ übersehen wird, dass solche selbstgemachte Verunmöglichung von Politik durch die politische Konkurrenz wahrgenommen und bewusst vernutzt wird.

Über das Stöckchen DDR ist die LINKE aus der möglichen Regierung in NRW gestolpert, über das Stöckchen Gauck konnten SPD und Grüne ganz bewusst die bundespolitische Zusammenarbeit mit der LINKEN wenn nicht verunmöglichen, so doch erheblich erschweren. Befürchtete innerparteiliche Kritik behindert offenes Handeln, wenn es um die gemeinsame Durchsetzung von politischen Inhalten mit anderen Parteien zusammen geht und nutzt somit nicht der LINKEN, sondern der politischen Konkurrenz, weil die LINKE mangels eigener Klarheit des Blickes nicht als möglicher Partner zum Gestalten wahrgenommen werden kann und darf. Allerdings gibt es hier durchaus erklärbare und spürbare regionale Unterschiede innerhalb der LINKEN.

In den östlichen Bundesländern konnte sich, während des Umbruchs und seit 1990 dann in der Mitgestaltung und auch der Mitverantwortung für das kapitalistische System der BRD, eine linke Politik in der damaligen PDS, der jetzigen LINKEN, entwickeln, die sich ihrer historischen Rolle und der damit einhergehenden Schuld bewusst ist, das politische Handeln für die Menschen in der realen sie umgebenden – also kapitalistischen Gesellschaft – als ihr Hauptziel versteht und gelernt hat mittels Kompromissen und der Zusammenarbeit mit anderen demokratischen Parteien die Zustände durch Reformen und positiven Gestaltungswillen zu verändern. Allerdings konnte damit bis 2006 nie eine gesamtdeutsche linke Partei formiert werden. Im Zuge der Etablierung der WASG, der gemeinsamen Bundestagswahl und der dann konsequenterweise erfolgten Fusion von WASG und PDS zur LINKEN ist diese Ausdehnung auf die gesamte BRD zumindest auf dem Papier gelungen. Eine Fusion und Ausdehnung, die zum damaligen Zeitpunkt und auch in der Nachbetrachtung, eine einmalige Chance wahr und es auch für absehbare Zeit im Sinne der Etablierung einer fünften, linken Partei im bundesdeutschen Parteienspektrum bleiben wird.

Es wird allerdings zunehmend spürbar innerhalb der LINKEN, dass gerade in den westlichen Verbänden viele Altlinke der BRD einen Platz gefunden haben, die eine linke sozialistische Kraft nicht als ausgleichenden Faktor innerhalb des Systems verstehen, sondern eine solche Partei als Vorstufe und Transmissionsriemen für einen revolutionären Umbruch und eine (durchaus auch gewaltsame) Beendigung kapitalistischer Verhältnisse durch den Aufstand einer allerdings noch diffusen Arbeiterklasse (miss)verstehen. Ungeachtet der Tatsache, dass dieser Aufstand seit Gründung der BRD auf sich warten lässt, bei objektiver Betrachtung sogar immer unwahrscheinlicher wird, und sich mittlerweile das umhegte Subjekt des Tuns (die Arbeiterklasse) in unterschiedlichste Milieus mit teils übereinstimmenden, teils sehr differenten Wünschen und Bedürfnissen hinweg diffundiert hat. In diesen altlinken Zirkeln wird nicht zur Kenntniss genommen, dass für die Bevölkerung der Alt-BRD und noch viel mehr für die Bundesbürger mit DDR-Erfahrung die Systemfrage als Wahl zwischen Barbarei und Sozialismus mit dem Versprechen Freiheit durch Sozialismus – durch einen wissenschaftlich fundierten Marxismus nach einer Revolution – nicht mehr als Frage auf der Tagesordnung steht. Und zukünftig auch nicht stehen wird.

Die Erfahrungen der realsozialistischen Diktaturen in Europa mit zentral verwalteter Staatswirtschaft, dem daraus unabänderlich folgenden Mangel (immer noch aktuell zu erleben in Kuba und dem Experiment Venezuela) und der mehr oder weniger gewaltsam herbeigeführten Abwesenheit von Kritik, Demokratie, Freiheit und Menschenrechten sind in den Erfahrungswelten der neuen Bundesbürger und auch einem Grossteil der westdeutschen Bevölkerung zu präsent. Der Realsozialismus fundamentalistischer Prägung hat sich seit diesen Jahrzehnten in der BRD, in Europa und auch im grössten Teil der übrigen Welt ein für alle Mal selbst diskreditiert. Hier hilft auch kein Pochen auf die vermeintliche Wissenschaftlichkeit der sozialistischen Weltanschauung und die hilfsweise vorgetragene Entlastungsrede linker Fundis, dass weder die DDR, noch die anderen sozialistischen Länder, ihre undemokratischen Methoden und schon gar nicht die Gewaltexzesse von Gestalten wie Lenin, Dserschinski, Trotzki, Stalin, Mao und Pol Pot, etwas mit dem wahren Sozialismus und dem richtigen Kommunismus zu tun hätten.

Diese Ausblendung unliebsamer Entwicklungen der eigenen Politik, verhilft zukünftig nicht zu mehr Klarheit über Weg und Ziel, sondern zeugt davon, dass man sich sehr wohl bewusst ist, welche Gefahren in einem fundamentalistischen Weltbild und Politikstil liegen, dass man diese aber für sich selbst als unbegründet versucht weg zu definieren und nach Aussen jedwede Verbindung zur eigenen Vergangenheit verleugnet. Der beste Weg, um dazu verdammt zu sein, Fehler zu wiederholen. Nicht verwunderlich, wenn man aufmerksam auf Zwischentöne in den Beiträgen westlinker Fundis achtet, die es sich nicht nehmen lassen im vermeintlich notwendigen Kampf gegen das kapitalistische System und seine Kostgänger auch mögliche Gewalt in „gute Gewalt“ (weil für den Klassenkampf und die Revolution nötig und von links ausgehend) und „schlechte Gewalt“ (weil vom bürgerlichen Staat und seinen Anhängern ausgehend) einzuteilen und Gewalt als Fortsetzung linker Politik mit anderen Mitteln betrachten. Worin man sich dann nicht mehr von neoliberalen Hardlinern unterscheidet, die eine fast deckungsgleiche Argumentation für ihre noch verbale oder schon gelebte (staatliche) Gewalttätigkeit nutzen.

Selbstverständlich weiss der westlinke Fundi auch um diesen Umstand und behilft sich dann gerne seiner sozialistischen Weltanschauung als Ausdruck einer wissenschaftlichen, gleichbedeutend einer wahren und damit richtigen und letztlich guten Sicht auf die menschliche Entwicklung und Gesellschaft. Völlig ausblendend, dass seine eigene Partei sich schon lange nicht mehr als Weltanschauungspartei versteht (aufgrund ihrer leidvollen Geschichte) und Sozialismus nicht mehr mit wissenschaftlicher Begründbarkeit als unvermeidbarer Zwischenschritt zum Kommunismus gesehen wird, sondern mittels des Konstruktes vom „demokratischen Sozialismus“ der Weg als Ziel definiert und somit ein freiheitlicher, demokratischer Transformationsprozess innerhalb des Systems beschrieben wird.

Denn nur so ist es möglich, die dem Kapitalismus inhärenten gewaltigen Innovationspotentiale, nicht nur im technisch-wissenschaftlichen, sondern gerade auch im gesellschaftlichen, verteilungspolitischen Bereich, durch einen artikulierten Willen zur Mitgestaltung im Sinne linker Politik erfolgreich für die Mehrheit der Menschen zu nutzen. Fundamentalopposition hingegen muss sich immer berechtigterweise den Vorwurf gefallen lassen, dass man sich, so man sich selbst ernst nimmt, gar nicht erst in Parlamente des zu überwindenden Systems wählen lassen sollte. Ein gerade für den westlinken Fundi nicht erstrebenswerter Umstand, da das System zwar in seiner Gedankenwelt hinweggefegt gehört, er aber gerne an der Etablierung der LINKEN im bürgerlichen Staat und den damit einhergehenden Annehmlichkeiten des Systems partizipiert. Seien es nun staatliche Gelder in Form von Diäten, Mitarbeiterstellen oder zumindest öffentliche Aufmerksamkeit und ungehinderte Freiräume zur Darstellung seiner überkommenen Revolutionsphantasien. Möglichkeiten der sozialistischen Kuschelecken im Kapitalismus, die dem demokratisch, freiheitlichen Rechtsstaat (so fehlerhaft er auch noch sein mag) geschuldet sind und fordern lassen, dass dieser endlich in seiner Verfasstheit und seinen Möglichkeiten und Chancen für alle Menschen von allen Linken in der LINKEN anerkannt werden sollte (ohne natürlich die allgegenwärtigen Fehlentwicklungen und Deformationen dieses Systems auszublenden). In den realsozialistischen Ländern vor 1989 hätte ein analoges systemkritisches, gar systemfeindliches, Verhalten im besten Falle zu völliger gesellschaftlicher Isolation geführt, wenn nicht gar direkt in den Gulag.

In diesem Sinne sollte die LINKE in ihrer Gesamtheit von den realpolitischen Erfahrungen der ostdeutschen Verbände und Mandatsträger profitieren und diese mit den Ideen westdeutscher, linksbürgerlicher Mitglieder der Partei verbinden. Ein für die Zukunft tragfähiges Fundament der LINKEN kann nicht aus einem faulen Kompromiss als Ausgleich zwischen ostdeutscher Realpolitik und westdeutschem Traditionskommunismus gebaut werden, der seine inhärente Handlungsunfähigkeit schon zu Genüge innerparteilich und nach Aussen bewiesen hat. Im besten Fall erkauft man sich damit eine strukturell handlungsunfähige Partei, die keinerlei Antworten für die Fragen der politischen Zukunft des Landes formulieren kann und will. Von einer Umsetzung oder wenigstens einer Funktion als Regulativ ganz zu schweigen. Dass solch eine LINKE natürlich auch für die Wähler nicht attraktiv sein kann, versteht sich von selbst. Und ist auch schon anhand sinkendem Wählerzuspruchs im Westen zu erkennen, da die LINKE nicht per se ein ständig von Wahlerfolg zu Wahlerfolg taumelnder Selbstläufer ist. Eine weitere Erfahrung, die die Verbände der ehemaligen PDS im Osten des Landes schon machen konnten.

Schafft sie es hingegen die Erfahrungswelten zu integrieren und daraus einen Politikentwurf des „demokratischen Sozialismus“ als Alternative im System und unter Nutzung all seiner Kräfte und der demokratischen Instrumente zu gestalten, kann sie ein wichtiger Partner für andere Parteien, aber auch Bewegungen, Gewerkschaften und Interessengruppen, werden. Und dann in gemeinsamem Handeln auch und gerade in der Mitverantwortung einen Transformationsprozess initiieren und mitgestalten, der über den jetzigen Zustand des kapitalistischen Systems hinausweist, es in menschlicher, demokratischer und freiheitlicher Weise umgestaltet. Ohne die untauglichen Keulen des Klassenkampfes und der überkommenen Wissenschaftlichkeit eines erstarrten marxistisch-leninistischen Weltbildes. Die Welt ist seit 1989 und eigentlich schon davor eben nicht in Schwarz-Weiss und Gut und Böse einteilbar, sondern sie ist voller Zwischentöne. In Teilen der LINKEN hat sich hier die durchaus treffende Beschreibung „Das Leben ist bunter“ etabliert. Mit einer intensiveren, ergebnisoffenen und solidarischen Debatte – innerhalb, aber auch ausserhalb der Partei – unter diesen Vorzeichen wäre der LINKEN als Partei und der Linken als Milieu in diesem Land gut gedient.
(mb)