Krise ohne Wirkung

Dieser Text erschien zuerst am 13. September 2012
Nach den Parlamentswahlen in den Niederlanden ist klar, dass zum wiederholten Male eine sozialistische Partei nicht von der seit Jahren andauernden Euro- und Weltwirtschaftskrise und deren dramatischen Folgen für den „kleinen Mann“ profitieren konnte. Ein verbaler, mit eurofeindlichen und populistischen Parolen aus den Zeiten des untergegangenen Staatssozialismus geführter, Klassenkampf von Unten verfängt nicht mehr gegen einen sogenannten „Klassenkampf von Oben“, der sich, getragen von konservativen und sozialdemokratischen Parteien in Regierungsverantwortung, nur noch in immer neuen Rettungspaketen, Schutzschirmen und Spardiktaten erschöpft, um den Euroraum, bislang erfolgreich, durch die schwerste Krise des Kapitalismus seit dem zweiten Weltkrieg zu führen.

Noch vor wenigen Wochen wurden die niederländischen Sozialisten der SP, die Anfang der 1970er Jahre aus der maoistischen Bewegung entstanden ist, bei mindestens 20% gesehen. In einer Umfrage vom 12. August lag die SP sogar mit 37% klar vor allen anderen Parteien. Die Wahlnacht selber beendete dann diesen Traum, den nur zu gerne auch die deutsche Linke aus grösstenteils eigennützigen Motiven mitgeträumt hat, mit einer Punktlandung auf dem Ergebnis der Wahl von 2010. Statt ihr Ergebnis zu vervielfachen, konnte die SP lediglich 9,66% (-0,16% im Vergleich zu 2010) der Stimmen erringen und stellt mit weiterhin 15 Abgeordneten nur die viertstärkste Kraft. Wahlgewinner sind die rechtsliberale VVD und die Sozialdemokraten der PvdA, die beide jeweils um über 5% zulegen konnten.

Auch in anderen europäischen Ländern ist es bei den jüngsten Wahlen den dortigen sozialistischen Parteien bislang nicht gelungen, vom – durchaus berechtigten – Protest so zu profitieren, dass sie ihn parlamentarisch in eigene Regierungsverantwortung kanalisieren können. Bei der französischen Präsidentenwahl im April konnte Jean-Luc Mélenchon als Kandidat der Front de gauche (FDG), einem Bündnis der Kommunisten der Parti communiste français (PCF) und der Sozialisten der Parti de gauche, lediglich den vierten Platz mit 11,1% der Stimmen erringen, obwohl er in Umfragen bereits bei bis zu 15% gesehen wurde. In der Stichwahl blieb der FDG dann nur noch die Möglichkeit durch einen Wahlaufruf dem Sozialdemokraten François Hollande der Parti Socialiste (PS) zum Wahlsieg zu verhelfen. Bei den folgenden Wahlen zur Nationalversammlung konnte die FDG lediglich 15 Sitze erringen, die PS des Präsidenten Hollande verfehlte hingegen nur knapp die absolute Mehrheit.

In Spanien, das von der Wirtschaftskrise besonders hart betroffen ist, wurden bei der letzten Parlamentswahl im November 2011 lediglich die bisher regierenden Sozialdemokraten der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) durch die Konservativen der Partido Popular (PP) abgelöst. Die PSOE verlor 15% der Wählerstimmen und die PP erreichte eine komfortable Mehrheit von 44,63%. Trotz eines Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 20%, einer Jugendarbeitslosigkeit von 42% und andauernder Massenproteste der Bevölkerung konnte die sozialistische Linke der 1986 gegründeten Izquierda Unida (IU) lediglich 6,92% erringen. Zwar bedeutet dies eine Verdoppelung des Ergebnisses von 2008, zeigt aber gleichzeitig auch, dass selbst in der schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krise Spaniens seit Jahrzehnten, die politische Linke es nicht vermag, als wählbare Alternative zu erscheinen, der man die Regierungsverantwortung zutraut.

Noch im Juni konnten die europäischen Sozialisten, und hier besonders die deutsche Linke, noch darauf hoffen, dass es zumindest der griechischen SYRIZA gelingt, mit einem Programm der Fundamentalopposition von links im Mutterland der europäischen Demokratie die Regierung zu übernehmen. Und damit endlich den Beweis anzutreten, dass die Rezepte des etatistischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts auch gegen die Krisen des Kapitalismus im 21. Jahrhundert wirksam sind. Im Mai 2012 gelang SYRIZA ein erdrutschartiger Erfolg, der sie mit 16,8% (+12,2%) zur zweitstärksten Kraft im Parlament werden liess. Das griechische Wahlsystem schlägt allerdings der stärksten Partei automatisch 50 Sitze zu, so dass die konservative Nea Dimokratia (ND) mit 18,9% immer noch über 108 Sitze verfügen konnte. Angesichts des Programms der SYRIZA, das alle bisherigen und zukünftigen Rettungsmassnahmen ablehnt, einer damit drohenden endgültige Pleite des Staates und des Scheiterns der Bildung einer halbwegs tragfähigen Regierungskoalition, musste bereits im Juni neu gewählt werden. Auch aus dieser Wahl ging die ND als stärkste Kraft mit einem deutlichen Plus von 10,8% hervor. Die linke SYRIZA änderte ihren politischen Kurs nicht und konnte nochmals 10% hinzu gewinnen. Das Ergebnis ist eine Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten der PASOK und der Demokratischen Linken (DIMAR) unter der Führung der ND. Der SYRIZA und damit auch der versammelten europäischen Linken bleibt es also erspart, den Beweis der Tragfähigkeit linker Krisenbewältigungsrezepte führen zu müssen.

Am Beispiel Griechenlands wird deutlich, dass eine Politik der linken Fundamentalopposition kurzfristig zwar Protestpotential zu binden vermag, es aber dann genau diese Fundamentalopposition ist, die es derzeit linken Parteien unmöglich macht, mit in die Regierungsverantwortung genommen zu werden. So bleibt der SYRIZA für die laufende Legislatur „nur“ der weitere Protest und die Hoffnung, dass dieser bis zur nächsten Wahl tragen mag. Oder man erfährt als linke Partei das, was jetzt aktuell die SP in den Niederlanden lernen musste, dass radikale, linke Parolen noch im Wahlkampf vermeintlich verfangen, sich der Wähler dann aber in der Wahlkabine für aus seiner Sicht realistische Lösungsansätze und ihre politischen Vertreter entscheidet.

Für die deutschen Sozialisten in der Partei Die Linke sind diese Entwicklungen der Schwesterparteien in Europa keine guten Vorzeichen für die kommenden Wahlen auf Bundes- und Landesebene. Trotz dass die Bundesrepublik die Hauptlasten der Krisenbewältigung trägt, ist sie gleichzeitig auch immer noch Hauptprofiteur des Euroraumes und der europäischen Einigung. Ein populistische, eurofeindliche Rhetorik verfängt somit in der bundesdeutschen Politik nicht. Rufe nach Verstaatlichung, eine Fundamentalopposition gegen einen selbsterklärten neoliberalen Einheitsblock der „etablierten“ Parteien und das Gegenmodell eines demokratischen Sozialismus wirken auf den Wähler eher abschreckend, denn anziehend. Dies dürfte zumindest aus den kontinuierlichen Wahlniederlagen der Linken zu erkennen sein. Aber auch die Übernahme von Regierungsverantwortung wie in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin oder aktuell Brandenburg führt nur dazu, dass Die Linke sich nach einer mehr oder weniger kurzen Zeit noch geschwächter in der Opposition wieder findet.

Die Linke hat den Weg aus diesem Dilemma noch immer nicht gefunden. Die kurzzeitige Auffrischung durch die Übernahme der aus Protest gegen die Agenda-Politik der SPD Anfang der 2000er Jahre entstandenen WASG ist längst verpufft. Neue Massenproteste, an denen man sich politisch und organisatorisch nähren kann, sind auf längere Zeit nicht in Sicht. Und der eigene Parteikörper erodiert weiter, da Die Linke eben nicht, wie sie in jüngster Zeit feierte, 5 Jahre alt ist, sondern bereits seit 1946, zumindest im Osten Deutschlands, besteht und dadurch auch immer noch die Hypothek eines bereits untergegangenen sozialistischen Staates mit sich trägt. Die zwischen 6 und 8% pendelnden Umfragewerte lassen vermuten, dass dies zumindest der für 2013 noch erreichbare Status bleiben könnte. Eine Zustimmung von 3% im Westen kann nach einer mutmasslich verlorerenen Wahl in Niedersachsen auch noch weiter abnehmen und würde Die Linke dann auf den Stand zurück werfen, auf dem sie als PDS bereits 2002 mit nur 4% auf Bundesebene und lediglich zwei Direktmandaten im Bundestag war.

Die derzeitige Diskussion über eine stärkere Berücksichtigung der ostdeutschen Identität der Linken und damit verbunden die Konzentrierung auf das aus PDS/SED-Zeiten (noch) vorhandene Kernland samt aussterbender Wählerschaft, lässt erahnen, dass dieser Prozess schon längst eingesetzt hat. Die von der Linken medial aufbereitete Kampagne zur Rentengerechtigkeit zwischen Ost und West dürfte erster Ausdruck dieses Rückzugsprozesses sein. Wenn selbst der westdeutsche Parteivorsitzende Riexinger erklärt, dass man die nächste „Bundestagswahl im Osten zur Abstimmung über die Renteneinheit“ machen werde, scheint auch der Funktionskörper im Westen nicht mehr darauf vertrauen zu wollen, dass es einen Automatismus zwischen der europäischen und deutschen Krise des Kapitalismus und dem politischen Erfolg der Linken gibt. Die Beispiele anderer europäischer Linksparteien und die Höchstwerte der regierenden CDU in den Umfragen lassen vermuten, dass man mit dieser Einschätzung richtig liegt. Wie Die Linke mit dieser Erkenntnis umgeht, wird sie spätestens nach der Wahl in Niedersachsen ernsthaft diskutieren müssen.
(mb)

Update
Zu den Wahlergebnissen in den Niederlanden ein Kommentar von Bernhard Sander unter dem Titel „Der Neoliberalismus verteidigt die Polder“ für Sozialismus Aktuell.